E U R O P A F O R U M

SPD Schleswig-Holstein

15. September 2015

Bürger*innenrechte/Deutschland/Eurokrise/Schengen
Grenzkontrollen in der EU: absurdes Mittel der Politik!

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen und damit die Aussetzung des Schengener Abkommens angekündigt. Ziel sei es, „den derzeitigen Zustrom nach Deutschland zu begrenzen“. Das ist angesichts der beeindruckenden Hilfsbereitschaft für Geflüchtete in den letzten Tagen nicht nur ein herber Rückschlag – es macht auch ein strukturelles Problem der EU offensichtlich.

Mich erinnert die Entscheidung massiv an das „‎Grexit‬-Papier“ von Wolfgang Schäuble. Bei den Verhandlungen der Eurogruppe über ein drittes Griechenland-Paket Mitte Juli hatte der deutsche Finanzminister (ebenfalls CDU) ein zeitlich befristetes Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone ins Spiel gebracht. Das politische Ziel, damals wie heute: eine Drohkulisse für den Fall aufzubauen, dass Verhandlungen scheitern. Im Juli richtete sich die Drohung an die Euro-Gruppe, de Maizières Erklärung zielt auf den Rat der EU-Innenminister.

Die Botschaft, vor allem an die osteuropäischen Regierungen: Wenn ihr nicht mitzieht, zum Beispiel bei einem europaweiten Verteilungsschlüssel für Geflüchtete, dann zieht Deutschland sich zurück, dann lassen wir euch mit den Flüchtlingen allein. Schließlich kommen die eher in euren Ländern an – und nach dem Dublin-Abkommen ist der EU-Mitgliedstaat für die Aufnahme und Unterbringung zuständig, in dem Asylsuchende das erste Mal EU-Boden betreten.

Realpolitisch ist es ja sogar verständlich, dass der deutsche Innenminister die Daumenschrauben anzieht: Solange Deutschland aus humanitären Gründen Flüchtlinge ins Land lässt (richtigerweise), die eigentlich an den EU-Außengrenzen registriert und untergebracht werden müssten, ist der Problemdruck für viele Mitgliedstaaten gering – das macht eine im deutschen Interesse liegende Lösung unwahrscheinlich. Besteht Deutschland aber auf den Dublin-Regelungen, müssen andere Staaten womöglich mit höheren Flüchtlingszahlen rechnen – der Einigungsdruck steigt. Mag sogar sein, dass die Rechnung aufgeht, aber: Dieses realpolitische Taktieren verursacht einen massiven Kollateralschaden für ‪‎Europa‬, der über die Infragestellung offener Grenzen noch hinausgeht. Niemand lässt sich gerne erpressen.

Erst Grexit, jetzt Grenzkontrollen: Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen stellt ein CDU-Minister im Namen der Bundesregierung vermeintliche deutsche Interessen über den europäischen Zusammenhalt. (In beiden Fällen übrigens mit Applaus der CSU und quälenden Magenbeschwerden beim Koalitionspartner SPD.) Ich fürchte aber, dass das Problem über diese Einzelfälle hinausgeht: Das europäische Regierungssystem provoziert solche Erpressungsversuche geradezu. Vor allem in Krisensituationen, wenn schnelles Handeln gefragt ist, liegt die Entscheidung in erster Linie bei den Ministerräten. Doch Minister sind dem nationalen Interesse verpflichtet – das erhöht das Risiko von kleinstaatlichem Sperrfeuer oder taktisch motivierten Alleingängen, um das gewünschte Ergebnis zu erzwingen.

Als großer und einflussreicher Mitgliedstaat sollte Deutschland sich besonders davor hüten, solche zweifelhaften Methoden zu nutzen. Auch wenn sich vereinzelte Konservative wünschen mögen, dass in Europa öfter Deutsch gesprochen wird: Es widerspricht dem europäischen Gedanken und unterminiert den Zusammenhalt in der EU, wenn Deutschland im eigenen Interesse die Richtung vorgibt. Die deutsche Europapolitik sollte lieber auf Zurückhaltung, Dialog und gesamteuropäische Interessen setzen, anstatt das eigene Gewicht in nationalen Alleingängen auszuspielen.
Das grundlegende Problem lässt sich aber nur durch strukturelle Reformen beseitigen: Die EU braucht endlich eine echte, dem Parlament verantwortliche Regierung, die Richtungsentscheidungen im gemeinsamen Interesse und ohne kleinstaatliches Störfeuer trifft. Der überbordende Einfluss der Ministerräte, gerade wenn es um schnelle Entscheidungen geht, ist eine dauernde Belastung für den europäischen Gedanken, die Legitimität von Entscheidungen der EU – und vielleicht sogar für ihren langfristigen Zusammenhalt.

Timo Vogler hat Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin studiert. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Bettina Hagedorn, SPD-Bundestagsabgeordnete aus Ostholstein.

Enrico Kreft

sozial, demokratisch, europäisch, nordisch

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Ein Kommentar

  1. Es gibt Momente, in denen man nur die Wahl hat wissen zwei schlechten Optionen. Wer den Livestream der Kommunalkonferenz zur Flüchtlingspolitik der SPD-Bundestagsfraktion verfolgt hat, musste bemerken, dass es so wie bisher nicht lange weitergehen konnte. Verwaltungen und Ehrenamtliche sind am Limit. Es gibt keine Unterkünfte und keine Betten und die Preise dafür gehen durch die Decke. Alle Flüchtlinge reisen über München ein. Die Sozialdezernentin aus München war den Tränen nah, als sie von den Verhältnissen dort berichtet hat und jetzt beginnt auch noch das Oktoberfest. Das ist für sich schon eine Herausforderung für die Sicherheit und die Stadt. Beides zusammen geht nicht. Und wenn München das Oktoberfestabsagt, wird die Stadt für den finanziellen Schaden aufkommen müssen.

    Die Grenzkontrollen sind scheiße, aber wenn sie dazu führen, dass die anderen Europäischen Länder Flüchtlinge aufnehmen, dann haben am Ende alle etwas davon.

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